Eine 20-jährige Liebensgeschichte 1999-2019

Wir haben unseren Lehrer verloren, eine grosse Autorität, eine Koryphäe, eine Legende und unser Freund.

1999 lernten wir, Roberto Danubio, Daniel Humbel, Gianni Baccaro, Mauro Danubio, Thomas Risch und ich, Sensei Shingo Ohgami kennen. Wir besuchten damals sein Sommerlager in Mariestad, Schweden. Wir waren sofort gefesselt von seinem Können, seinem Wissen, seinen Demonstrationen und seiner Persönlichkeit. Fortan besuchten wir die Lehrgänge in Schweden regelmässig. Ich selber reiste jedes Jahr bis zu drei Mal nach Schweden um an den Trainingslagern teilzunehmen. Oft hat die SWKO/SWKR mit Ohgami in der Schweiz Seminare durchgeführt. Alle die bei ihm trainierten sprechen mit grösster Hochachtung von seiner Menschlichkeit und Demut. Mich hat er zutiefst geprägt mit seinem fundierten Wissen, seiner tiefen Philosophie und seiner humorvollen Art. Während der vergangenen 20 Jahren lehrte er uns unermüdlich die Feinheiten des Wadokai und das Begreifen des Budogeistes. Die Ehrfurcht, die Bewunderung und die Liebe zu ihm hat in den vergangenen 20 Jahren nie nachgelassen. Sie wurde gefestigt, vertieft und erweitert. Shingo Ohgami ist unersetzlich. Er war unser Freund und wird unser Meister bleiben.

Der Lehrer

Shingo Ohgami war ein Mann der Taten und der Worte. Ein klein gewachsener Mann mit grossem Charakter und einer herrlichen Lebensfreude. Bei geschichtlichen Hintergründen zu Techniken konnte er aus verschiedenen Stilrichtungen oder anderen Budosportarten zitieren und erklären. Jedes Mal mit Quellenangabe, nicht einfach Gerede. Seine Exkurse waren umfangreich und sehr interessant. Sämtliche seiner Prinzipien, die Universellen, die Himmlischen und die Prinzipien des Wadokai, habe ich aufgesogen und für mich niedergeschrieben. Weitergeben war eines seiner Hauptziele. Nichts für sich zu behalten, den Schülern vorbehaltlos den Respekt erweisen, sie ernst zu nehmen, ihnen zuhören und als Lehrer aufmerksam zu sein war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Shingo war vorbehaltlos präsent für seine Schüler. Körperlich Behinderte waren eine Selbstverständlichkeit in seinen Trainings. Personen im Rollstuhl, an Krücken, Personen mit Spastiken. Alle wurden ganz normal integriert, bereits zu Zeiten als Behindertenkarate noch kein Thema war. An einem Lehrgang in der Schweiz fragte ich ihn einmal ob er die Leute nicht zu sehr lobe. Er sagte, dass man nie genug loben kann, you have to fame the people, was ja noch viel mehr ist. Ich glaube er kam gar nie auf die Idee, dass jemand nicht sein Wissen und sein Können hatte. Korrekturen nahm er sanft und positiv vor. Er meinte oft, «ja so kann diese Technik auch ausgeführt werden, aber wir haben den Wadokai Prinzipien zu folgen». Seine Trainingslektionen verliess ich nie frustriert, sondern immer erfüllt im Wissen, dass ich schon vieles gut kann, aber noch dazu lernen kann. Seine Lehrertätigkeit hatte die gute Balance zwischen Korrektur, Motivation und Ausblick.

Der Forscher
Oftmals zeigte er Kata in verschiedenen Stilrichtungen vor, wechselte von Stilrichtung zu Stilrichtung und erklärte die Idee hinter den Ausführungen dazu. Täglich übte er 72 Katas, was ca 2.5 Stunden Training bedeutete. Er sah dies als grossem Nutzen die verschiedenen Stilrichtungen zu üben und mit Wadokai zu vergleichen. Sensei Ohgami besitzt eine unfassbar grosse Sammlung an Budolektüre. Das verstaubt aber nicht in seiner grossen Bibliothek, sondern das Wissen daraus gibt er weiter im Unterricht oder in seinem regelmässig publizierten Magazin. Er war ständig am Forschen der Geschichte und des Budogeistes, suchte Beweise und Ursprünge. Neben zahlreichen schwedischen Publikationen, verfasste er zwei englischsprachige Grundwerke, die jede Karatepraxis bereichern und von grösstem Wert sind.

Geschichtenerzähler
In seinen Budovorträgen zeigte er Bilder aus Museen auf der ganzen Welt, wo er Keramiken mit aufgemalten Kampfsporttechniken fand. Diesen Techniken ging er dann jeweils geschichtlich auf den Grund.

Bei einem Besuch im schweizerischen Augusta Raurica studierte er jede einzelne ausgestellte Münze, jedes Mosaik und suchte nach Kampfszenen der Römer. An einem Schwingfest war er überaus begeistert von dieser Schweizer Tradition und fortan zeigte er auch Bilder der Schwingtechniken und verglich sie mit Karate- Judo- und Sumotechniken. Er genoss es am Sägemehlring zu sitzen, eine Bratwurst und ein Bier in der Hand, um die Wettkämpfe mit Kennerblick zu verfolgen. Lobend erwähnte er die Geste des Rückenputzen, dieses erweisen von Respekt war für ihn sehr wichtig. Er erzählte nur Dinge die er beweisen konnte. Da schien wohl seine Forschertätigkeit im Chemie-Bereich durchzuschlagen. Beeindruckt hat mich auch seine Loyalität gegenüber dem Gründer des Wadokai Hironori Ohtsuka. Wenn er eine meiner zahllosen Fragen über Karate beantworten musste, tat er das sehr ausführlich, mit dem ganzen geschichtlichen Hintergrund. Nicht immer hatte er jedoch eine Erklärung bereit, warum Ohtuska einen technischen Aspekt so festgelegt hat, wie wir in üben sollten. Mit einem ernsthaften Lächeln sagte er dann, er suche auch noch nach der Antwort oder dass er sich das noch nie gefragt habe. «Ob es gut und richtig ist oder nicht, wir wissen es nicht, lass uns aber weiter trainieren und die Antwort suchen». Ich fragte ihn mal was ihm Karate in den vergangen Jahrzehnten gebracht habe. Ich bekam die simple Antwort – er wisse es nicht. Vielleicht eine bessere Gesundheit, vielleicht ein besseres Leben, vielleicht sei er ein besserer Mensch geworden. Es gäbe keinen Beweis für irgendetwas. Es habe ihm aber immer viel Spass gemacht!

Er starb im Alter von 78 Jahren an einer schweren Krankheit, die ihm nie den Mut nahm am Budogeist festzuhalten. Wir ehren einen aussergewöhnlichen Mann. Eine Persönlichkeit die tiefe Spuren im Schweizer Wadokai legte. Eine unauslöschbare Spur im technischen Bereich, im Bereich des Budo, der Weisheit und der Philosophie. Dieser Spur wollen wir weiterhin treu folgen. Er ist ein Wegweiser, ein Vorbild an Demut, Menschlichkeit, Herzlichkeit und wie ein Lehrer sein muss. Er lässt uns zurück mit einem riesengrossen Erbe. Shingo Ohgami, unglaublich, dass wir ihn gekannt haben und von ihm lernen durften. Wer ihn kannte weiss wie gross unser Verlust ist. Die Wadowelt ist nun eine andere. Eine 20-Jährige Liebesgeschichte ist mit unendlicher Dankbarkeit und grosser Trauer zu einem abrupten Ende gekommen. Wir haben ihn verehrt und geliebt. Wir sind tieftraurig, unser Freund ist gegangen. Wir wünschen ihm in der anderen Welt ein schönes Dojo und einen schmerzfreien Körper. Möge er gut ankommen und ewigen Frieden haben.

Shingo Ohgami hinterlässt neben Tausenden Schülern auch drei erwachsene Kinder sowie Enkelkinder. Ihnen sprechen wir unser tiefes Beileid aus.

Brigitte Quirici, für alle Wadokarateka der Schweiz

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